Begegnung mit dem Dekan

Mittwochmorgen, acht Uhr: Thomas Müller-Weigl steuert seinen roten Suzuki die kurvige Strasse zum Bahnhof Langwies hinunter. Hinter der Frontscheibe ein Schild mit dem Namen «THOMI», links ein Schweizerkreuz, rechts der Bündner Steinbock. Er habe das Schild von seinem Sohn geschenkt bekommen, seither fahre es mit. Als ehemaliger Motorfahrer der Schweizer Armee und Inhaber eines Führerausweises für Lastwagen weiss er es zu schätzen. Es ist kalt an diesem Oktobermorgen. Der Himmel zwar blau, doch die Sonne, vom nahen Davos herkommend, schafft den Sprung über die Tijerfluh erst spät. Müller knöpft  den Mantel zu und klaubt die Lederhandschuhe hervor.

Staunen über den Pioniergeist. 26,5 Kilometer lang ist die Bahnstrecke von Chur nach Arosa. Die Züge überwinden dabei 1050 Höhenmeter, durchfahren 19 Tunnels und überqueren 52 Brücken. Die grösste steht hier in Langwies und führt nach Südwesten hinüber zum Armafond- und Prätschliwald. Mit bewundernswerter Leichtigkeit überspannt der stolze Betonbogen gleich zwei Gewässer: den Sapünerbach und die Plessur. Wir folgen dem Fussweg, der zuerst parallel zum Bahngleis und dann durch den Herbstwald ins Tobel hinunter führt. Es ist ein Weg für Bahnfans: Wer hier geht, staunt über den Pioniergeist und den Mut der Bauleute. Auch Müller blickt durchs blättrige Gelb hinauf zur filigranen Konstruktion und lässt mich die Faszination für das mehr als 100 Jahre alte Bauwerk spüren. Noch heute ist es das Herzstück jeder Fahrt durchs Schanfigg.

Die Faszination für die Bahn und deren Brücken hat Müller von seinem Vater geerbt. Zudem hat das Langwieser Viadukt für den 56-Jährigen eine symbolische Bedeutung: Seit drei Monaten ist er als Dekan im Amt und fährt wöchentlich über das Viadukt oder mit dem Auto daran vorbei. Er tut es als Mann des Gesprächs, nahbar und ohne Allüren. Vieles in der Landeskirche sei komplexer, als er sich das vorgestellt habe: Aufwändige Gesetzgebungsprozesse, Neuzuteilung von Aufgaben, Neustrukturierung und Organisationsentwicklung, dazu der Einsitz im Kirchenrat mit seiner reich befrachteten Traktandenliste. Es laufe gut und es laufe nach Plan, so Müller, wenn auch die Freiräume merklich geschwunden sind. Manchmal so sehr, dass er sich nach Momenten sehnt, in welchen er sich fernab von Kirchenpolitik mit Fragen der Spiritualität oder mit aktuellen theologischen Themen beschäftigen könne. «Damit die Freude und die Lust an der Sache nicht zu kurz kommen.»

Sinn für Lebendigkeit. Wer mit Dekan Müller redet, spürt, dass er Gemeindepfarrer ist, gewohnt, mit Menschen unkompliziert ins Gespräch zu kommen. Müller weiss, wie man vom Leben spricht mitten im Alltag und dessen Kapriolen. «Wir sind doch ein wandelndes Gottesvolk», sagt er auf unserem Weg ums Viadukt herum. Es sei wichtig, einander zu erzählen, wie es gehe, wo man grad stehe, was belaste und was belebe. Müller schwingt die Beine über einen Hütezaun und nimmt Kurs auf eine Bärenskulptur, die auf der Wiese neben dem Bahngleis steht, gut sichtbar für die Reisenden im Zug. Die Kirche sei mit den Gesetzgebungsarbeiten im Zuge der neuen Kirchenverfassung stark gefordert – auch die Kirchgemeindevorstände. Und ja, manchmal habe er die Sorge, dass angesichts dieser Herausforderungen die Lebendigkeit leide. «Zum Glück gibt es immer wieder auch das gemeinsame Lachen, Zeit zum Spintisieren, für unbeschwertes Entwickeln von auch mal verrückten Ideen.»

«Länge 287 m, Bogenspannweite 100 m, Höhe 62 m, Baukosten Fr. 625 000.–», so entnehme ich einem handgeschriebenen Text im Infokasten. Ein Foto aus dem Jahr 1912 zeigt ein Gerüst, welches das Tal wie ein hölzernes Riesenrad überspannt. Es ist ein sogenanntes «Lehrgerüst», über welchem die Konstruktion aus Stahl und Beton erbaut wurde. Ein weiteres Bild zeigt eine Gruppe von Bauleuten, die mit Hüten, einer Handsäge, mit Schaufel und Pfanne vor der Baustelle posieren. Müller schaut genauer hin und sinniert: Eine Vision zu haben, für die man Kraft, Wissen und Fähigkeiten einzusetzen bereit ist, das sei wichtig – auch für die Kirche. Als Jugendlicher sei er nach allen Regeln der Kunst aus der Kirche hinauskonfirmiert worden. Erst Jahre später habe er auf einer Pfarreireise neu Zugang gefunden, mehr noch: Es habe ihm richtig «den Ärmel reingenommen». «Nächstenliebe leben und dabei auch mal ein Fest miteinander zu feiern», das ist seither eine Vision, die ihn leitet. Nein, es sei nicht nötig, dieselbe Weltsicht zu teilen und politisch dieselbe Meinung zu haben. Aber die Vision sei sozusagen das «Lehrgerüst», auf dem Tragfähiges entsteht.

Interesse an Gesellschaftsthemen. Dass sich seit Corona auch in Graubünden die Fronten verhärten, beobachtet Müller mit Sorge. Fragen wie «Impfung: ja oder nein» sowie «Zertifikat: ja oder nein» lassen Freundschaften zerbrechen, verändern das Klima in Betrieben und sorgen für Gereiztheit bis in die Kirchgemeinden hinein. «Was haben wir dem als Kirche entgegenzusetzen?», fragt der Dekan. «Das Evangelium hält uns offen», ist Müller überzeugt, es gelte an der Erwartung festzuhalten, dass man es miteinander könne. Für ihn ist es gerade in der aktuellen Situation wichtig, das Verbindende nicht aus den Augen zu verlieren. Als Pfarrer mit 25 Jahren Berufserfahrung weiss er, wie wichtig es ist, trotz Differenzen im Gespräch zu bleiben und sich weiterhin zu treffen.

Kooperation statt Alleingang. Im Restaurant Edelweiss, zehn Gehminuten vom Viadukt entfernt, wärmen wir uns bei Tee resp. Espresso. Er möge es, wenn die Kirche herausfinde, was die Gesellschaft braucht, sagt Müller und wünscht sich eine Kirche, die aufmerksam das öffentliche Geschehen verfolgt und sich entsprechend einbringt. In den Kirchgemeinden werde viel Gutes getan, was vielen aber zu wenig bekannt sei. Eine Herausforderung sieht er darin, die Angebote noch vielfältiger zu machen. Die Kirche soll ihre Aktivitäten vermehrt nicht im Alleingang, sondern in Kooperation mit unterschiedlichsten Menschen entwickeln. Sein Tipp: auch Menschen einbeziehen, die mit der Kirche auf Distanz sind – und dann dafür sorgen, dass es ihnen Freude macht, sich zu engagieren. «Ja, das braucht Mut. Doch lieber Dinge ausprobieren und dabei Schiffbruch erleiden, als alles beim Alten zu belassen.»

Solchen Mut erwartet der Dekan auch von der Synode. Als «theologisches Kompetenzzentrum» müssten die Synodalen demnächst darüber diskutieren, wie denn eine Liturgie für die Trauung von gleichgeschlechtlichen Paaren künftig aussehen soll. Wenn es nach dem Willen des Dekans geht, sollten sie sich vermehrt auch zu gesellschaftspolitischen Fragen äussern, zum Beispiel zur Klimapolitik, zum Umgang mit Flüchtlingen oder zu den gesellschaftlichen Verwerfungen im Zusammenhang mit der Pandemie. Was daraus wird, kann Müller selber mit beeinflussen. Schon Anfang Februar wird er an einer ausserordentlichen Synode zum ersten Mal die Verhandlungen leiten und so das Profil dieses traditionsstarken Organs mitprägen – keine einfache Aufgabe angesichts der Vielfalt an Charakteren und Meinungen in der Pfarrerschaft.

Die nötige Kraft und Inspiration für die Fülle der Tätigkeiten in Dekanat und Pfarramt holt sich Müller unter anderem durch tägliche Meditation. Frühmorgens übt er sich im Stillwerden und lässt sich durch einen biblischen Text herausfordern. Kraft gibt ihm auch das Zusammensein mit der Familie oder mit Freunden. «Zum Glück kümmern sie sich herzlich wenig darum, was ich beruflich mache», meint er. Wenn es dann doch wieder mal hoch hergeht und alles zu viel werden will, tut Müller, was er auch nach seiner Wahl zum Dekan im vergangenen Sommer gemacht hat: Er nimmt die Handorgel, die er einst vom ersten Pfarrlohn gekauft hatte, geht barfuss auf den Balkon und spielt eine Melodie. Nein, ein guter Musiker sei er nicht. Für Entspannung sorge das musikalische Time-out trotzdem.

Mann des Gesprächs. Noch einmal kommen wir auf das Viadukt zu sprechen. «Wirklich, das sind Künstler», sagt Müller, und die Bewunderung klingt immer noch nach. Er bewundere Menschen, die zum einen wissen, wie ein so komplexes Bauwerk zu erstellen ist. Die zum anderen aber auch die Kraft haben, Visionen zu entwickeln, Menschen dafür zu gewinnen und mit ihnen zusammen Konkretes zu gestalten. Müller hofft, dass dabei zum Tragen kommt, was er einst in einem internationalen Studentenheim in Wien in Sachen Brückenbauen gelernt hat – genauer in dessen Küche, in der ein ständiger Abgleich von Interessen, Kulturen, Koch- und Essgewohnheiten nötig war. Er habe dort gelernt, wie wichtig das Gespräch, die Vernetzung und das gemeinsame Tun für das Zusammenleben sind. «Wenn nichts mehr geht, dann muss man miteinander an den Herd stehen. Wenn das möglich ist, geht auch alles andere viel besser.»

Stefan Hügli
Kommunikation

Thomas Müller-Weigl ist Pfarrer in Arosa und seit August Dekan der Bündner Synode.
Der Beitrag ist erstmals im Mitarbeitendenmagazin dialogintern 2012-12 erschienen.